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004 - TANZ - KEUSCHHEITSLEGENDE - Bausch

 

Ensemble • Foto • © Ulli Weiss 2006

 

Endlich wieder "unkeusch" in Wuppertal

KEUSCHHEITSLEGENDE – Ein Stück von Pina Bausch
Wuppertal, 21.05.2006

Die "KEUSCHHEITSLEGENDE" – Ein Stück von Pina Bausch wurde am Wochenende zum zweiten Mal wiederaufgeführt. Dieses Mal überraschenderweise im Schauspielhaus anstatt im Opernhaus. Um es gleich vorweg zu nehmen: Ein Kenner der früheren Aufführungen vermisst schmerzlich die "alten" Mitglieder des Ensembles. Es fehlen so klangvolle Namen, wie Lutz Förster, Dominique Mercy, Jan Minarik, Beatrice Libonati, Josephin Ann Endicott u.v.a. Man muss sich erst mal daran gewöhnen, dass "die Neuen" die Rollen spielen. Im großen und ganzen tut das dem Tanzabend keinen Abbruch. Aber man hatte sich an die bekannten Gesichter gewöhnt.

Von Dietmar Wolfgang Pritzlaff

Der Bühnenboden ist ein erstarrtes Meer. Blaue Wellen gemalt auf einer Folie. Plüschsessel, Sofas und Canapés auf Rollen in quietschbunten Farben stehen verstreut herum und lassen sich hin- und herfahren. Irgendwann krabbeln Krokodile auf den starren Wellen herum und werden mit rohem Fleisch gefüttert.
Die Tänzer und Tänzerinnen räkeln sich auf den Sofas oder springen vergnügt auf den Sesseln herum. Sie tragen passend zu dem Interieur bunte Kleider.
Gott sei dank, Mechthild Grossmann ist wieder mit dabei. Die Frau mit der tiefen Reibeisenstimme, die lyrische Texte aufsagen kann, dass sie einem vorkommen wie obszöne Gossensprüche. Sie ist diejenige, die diesen Abend besonders gestaltet. Sie fordert die anderen Tänzer und Tänzerinnen auf sich gegenseitig zu berühren und immer wieder neue Liebesstellungen zu finden. Sie animiert zu Spielen, Spielchen und zu Nachdenklichem.

Pina Bauschs Stück fragt nach unserer antrainierten Keuschheit. War man als Kind noch neugierig, darf man aus Anstand und angelernten guten Manieren als Erwachsener nicht mehr nach den Dingen des Lebens forschen? Oder nur hinter vorgehaltener Hand über so manche Dinge sprechen? Pina Bausch macht deutlich, wie wir gelernt haben uns zu verstecken, anstatt über Liebe und Berührungen, über sexuelle Normen und deren Überschreitungen, über anerzogene Ängste, über Gefallen und Nichtgefallen, über Anstand und gesellschaftlichen Zwängen zu sprechen. Und das ist immer noch aktuell und mitreißend, auch wenn dieses Stück schon im Dezember 1979 im Opernhaus Wuppertal uraufgeführt wurde.
In dem Programmheft von 1979 sind die Ansätze, Fragen und Themenannäherungen von Pina Bausch zu lesen, die ich dem geneigten Leser nicht vorenthalten will, da sie so ausführlich und gut beschreiben, aus welchem Stoff das Stück gemacht wurde. Aufgeschrieben hat sie der damalige Redakteur Raimund Hoghe. Ein Probentagebuch. Schade, dass nicht immer ein solches Tagebuch in den Programmheften zu den Bausch-Stücken zu lesen ist.

Zitat-Auszug aus dem Programmheft von 1982 • Text © Raimund Hoghe:
Beobachtungen, Erfahrungen, Notizen während einiger Proben
25. September - Einige Wochen nach Probenbeginn. Mein erster Probenbesuch. Frühling. Was ist das: Frühling? Wel­che Gefühle hat man da? Was fällt Euch zu Frühling ein? Oder Walzer: Was bedeutet das? Was löst dieses Wort bei einem aus? Und Keuschheit. Was heißt das: keusch sein? Und wie sieht Unkeuschheit aus? Pina Bausch fragt. Nach Dingen auch, die oft nur noch als Klischee empfunden werden und sucht, was dahinter ist: jenseits der Klischees, der abgenutz­ten Worte, der Pauschalantworten für ein Pauschalleben. Vertraute, abgesichterte Antworten will sie nicht. So auch keine Angaben zur Geschichte oder Geographie des Walzers. ,,Das wissen wir ja alle und brauchen es uns nicht mehr sagen". In einer späteren Probe werden sich einzelne Paare im Walzerrythmus bewegen, nicht in Dreivierteltaktschritten, sondern in Bewegungen, ,,in denen das Gefühl von Walzer ist". Einmal sagt Pina Bausch: ,,Ein Streicheln kann auch wie ein Tanz sein".
Pina Bauschs Fragen: auch ein Versuch, wieder ganz von vorn zu beginnen, zu versuchen, sich und seine Umwelt neu zu entdecken, zu erfahren. Neugierig fragend tasten sich Pina Bausch und ihr Ensemble vor. Untersuchen kleine Realitäts­auschnitte. Lassen sich auf Bruchstücke ein. Buchstabieren nicht nur Worte. Buchstabieren, um wieder empfinden, le­ben, lieben zu können - das Eis zu durchbrechen, das gefrorene Meer, die Kälte in und zwischen uns.

1. Oktober - Spazierposen von Paaren, Haltungen von Verliebten. Ein Mann und eine Frau gehen zusammen und berüh­ren einander. Hand in Hand. Hand um die Taille, Hand auf dem Po des Partners. Hand in der Hosentasche des Mannes. Serien von Haltungen. Scheinbar unendlich viele Möglichkeiten und doch auch Grenzen, die erkennen lassen, wie allge­mein auch die scheinbar persönlichen Berührungen sind, das Spontane ritualisiert ist und in Haltungen mündet, hinter denen Menschen ganz undramatisch und leicht verschwinden.

,,Geht einmal wie Schnellgeher gehen''. Zuerst einzeln, dann in der Gruppe wird der schnelle Gang probiert. Immer wie­ der und in den verschiedensten Formen ist es zu sehen: dieses schnelle Gehen, dieses gehetzte Sich-Fortbewegen, Auf­ ein-Ziel-zusteuern. Zum Beispiel auf Menschen. Nicht nur eine (Proben-)Szene: einer geht auf einen anderen zu und, kaum hat er ihn erreicht, verläßt er ihn wieder oder wird verlassen - als könne man die Nähe doch nicht ertragen und müsse voneinander abrücken, nachdem die Schutzschicht durchbrochen. Doch auch wenn sie wiederholt erleben, wie das Aufeinanderzugehen nur kurzfristig Nähe herstellt und neue Distanzen schafft, gehen sie doch immer wieder los, fra­gen nach Richtungen, Menschen, festen Punkten, einem Ziel - brechen auf, kehren zurück, brechen auf. "Man hat halt oft so eine Sehnsucht in sich", bekennt das Mädchen in Ödön von Horvaths „Kasimir und Karoline", ,,aber dann kehrt man zurück mit gebrochenen Flügeln und das Leben geht weiter, als wär' man nie dabeigewesen".

11. Oktober - ,,Als sie ihn erwartete / war Rosenaufgang / sie hielt den Sommer/ in der Hand // Als er nicht kam / zählte sie bis hundert/ bis tausend/ bis unendlich// Als er kam/ war sie eine Statue/ mit tauben Augen/ abgehau­ nem Mund" - ein Gedicht der jüdischen Lyrikerin Rose Ausländer, ,,Phasen". Phasen, auch in einigen Probenszenen: Menschen, die auf Zärtlichkeit warten und wie versteinert dastehen, wenn sich ihnen jemand zärtlich nähert. Oder: Annä­ herungsversuche lösen Abwehrreaktionen aus. Zärtlichkeiten werden zu Bedrohungen, Berührungen zu Schlägen. Und auch die Objekte verändern sich. Alltägliche Gebrauchsgegenstände werden Kampfinstrumente. ,,Verschiedene Sachen, die man bei sich trägt und die man als Waffen benutzen kann". Kämme, Bücher, Bürsten, Schals, Schuhe, Schlüssel, Taschen, Gürtel: auch als Dinge zu erkennen, mit denen Menschen abwehren, verletzen, von sich fernhalten kann. ,, Von Dir muß man Abstand halten", erklärt im Theaterfoyer eine Frau einer anderen, deren bodenlanges Abendkleid auf der Treppe eine Schleppe bildet, Blicke anzieht und Distanz erfordert, wenn man nicht stürzen will.
Zitat-Auszug aus dem Programmheft von 1982 • Text © Raimund Hoghe

Die Zitate zusammengefasst: Pina Bausch fragt in den Proben...
Frühling, was ist das? Welche Gefühle hat man da? Was fällt Euch zu Frühling ein? Oder Walzer? Was bedeutet das? Was löst dieses Wort bei einem aus? Und Keuschheit. Was heißt das: keusch sein? Wie sieht Unkeuschheit aus? Welche Spazierposen gibt es? Wie sind die Haltungen von Verliebten: Hand in Hand, Hand auf Po des Partners. Aufforderung: "Geht einmal wie ein Schnellgeher geht". Zärtlichkeiten werden zu Bedrohungen, Annäherung löst Abwehrreaktion aus. Alltägliche Gebrauchsgegenstände werden Kampfinstrumente. Man sagt: "Von Dir muss man Abstand halten". Verletzbare Stellen am Körper: Herz, Hals, Bauch, Hoden, Penis, Brust. Geboxt, getreten, herausgerissen, abgeschnitten, verletzt. Die Form bewahren: Sich an Vorgegebenes halten. Nur nichts falsch machen. Nach Regeln leben. Rituale beim Essen, Rituale in der Liebe. Liebesstellungen einnehmen. Kleidungsstücke ablegen, aber die Scheu behalten. Sich entblößen und unerkannt wieder verschwinden. Sich zeigen und verstecken. Gefühle äußern, um sich gleich darauf erneut zu verbergen, weil man sich zu weit vorgewagt hat. Ein Kind reißt sein Hemd hoch und ruft: "Guck mal". Offen gucken – auf andere und sich selbst. "Das tut man nicht", hörte man als Kind. Man hat sich damit eingerichtet, aneinander vorbei zusehen.

Was zeigen die Tänzer und Tänzerinnen nach diesen Probenanweisung nun im Stück auf der Bühne?

Die Tänzer schauen unter die Röcke der Frauen. Männer verlieren Geld, suchen danach und schielen verstohlen unter die Röcke der Frauen. Eine Frau hockt sich hin und sagt: "Fertig". Eine Dame beschreibt Liebesstellungen und die Tänzer und Tänzerinnen versuchen diese einzunehmen. Ein Mann sagt: "Ich bin der liebe Onkel. Magst Du ein Bonbon?". Ein Mann wirft ein Messer immer wieder an eine Wand. Eine Frau macht Telefonsex. Vulgäre Sprüche werden aufgesagt. "Schmutzige" Lieder gesungen. Die Tänzer und Tänzerinnen zeigen ihre verletzlichsten Stellen. Ein Mann zeichnet mit Kreide auf dem Anzug eines anderen Mannes diese Stellen auf. Ein Tanz mit Bauchrollen wird gezeigt. Die Tänzerinnen gehen mit Männerposen (Greifen an die Hose) über die Bühne. Die Tänzer mit Frauengesten, wie Nagellacktrocknen oder Haare nach hinten werfen. Eine Frau sagt ins Publikum: "Darf ich heute bei Dir schlafen. Ich habe auch mein Kissen mitgebracht" und legt ihren Kopf in den Schoß eines Besuchers. Ein Mann balanciert eine Zigarette auf einem Finger. Und dann der grandiose Schluss des ersten Teils des Tanzabends der gleichzeitig auch wieder der Anfang des zweiten Teils ist: Alle tanzen gemeinsam. Dabei werden vorher doppelt und dreifach übergestreifte Kleidung ausgezogen und hoch in die Luft gewirbelt.

Im zweiten Teil des Abends schieben die Herren die Damen auf den Sesseln und Sofas über die Bühne. Die Damen lehnen sich zurück und genießen die Fahrt. Eine Frau sagt: "Kommen sie rein, kommen sie rein. Bei uns ist alles blitzblank..." Ein Mann zieht sich vor einem Spiegel aus und ölt seinen Körper ein. Eine Frau reißt sich ihren Pullover hoch und ruft: "Guck mal". Zum Schluss des Abends sitzen alle Tänzer und Tänzerinnen auf den Sesseln und im Sitzen wird noch getanzt, einen Schütteltanz. Kopf, Hände, Füße und Schultern werden abwechselnd geschüttelt. Und auch ein echter Pudel wird immer mal wieder über die Bühne geführt.

Keuschheitslegende ist eines der "frischesten" und komischsten Stücken von Pina Bausch. Gerade weil es unser aller Lust am Wiedersehen von vergrabenen Gefühlen so spielerisch umgeht.

Leider sind nur drei Tage für diese Wiederaufnahme im Schauspielhaus angesetzt worden und natürlich alle Termine ausverkauft gewesen. Man darf also gespannt auf die dritte Wiederaufführung hoffen, um dieses Stück mal wieder in Wuppertal sehen zu können.
Wer mehr über Pina Bausch und ihr Ensemble wissen möchte, lese im Internet nach:
www.pina-bausch.de Hier findet man auch den aktuellen Tourenplan. Denn Pina Bausch ist schon wieder in der ganzen Welt unterwegs.

Weiter Infos und Fotos:
https://www.pina-bausch.de/de/stuecke/detail/keuschheitslegende

 

Was sonst noch im Stück KEUSCHHEITSLEGENDE geschieht:

1ter Teil:
Frau spielt mit einem Ball an einem Gummiband/ Frau knallt einen Sektkorken im Hintergrund/ Tänzerinnen setzen sich zum „Pippi machen“ vor das Publikum und sagen: „fertig“/ Liebesstellungen nach Anweisungen/ „Darf ich bei Dir heute nacht schlafen. Ich  hab Angst im Dunkeln. Ich habe auch mein Kissen mitgebracht“/ Lied: „Banane, Zitrone, an der Ecke steht ein Mann...“/ ein Mann sagt: „Ich bin der liebe Onkel, willst Du ein Bonbon...“/ Frau sagt: „Harry Piel stand am Niel, wusch sich seinen Stiel mit Priel“/ Frau zieht Mann Jakett aus/ Das Beste von sich zeigen/ Frau lockt: „Komm, komm, put, put, put...“/ Frau ruft: „Pussy, pussy...“/ 5 Krokodile krabbeln umher und werden von einer Frau mit rohem Fleisch gefüttert/ Frauen gehen mit Männerposen (Greifen an die Hose) über die Bühne, Männer machen Frauengesten (Nagellack trocknen)/ Männer ziehen sich aus/ Alltagsgegenstände werden zu Waffen (Bürsten, Kämme)/ Männer streicheln Frauen mit einer Feder/ Mann wirft immer wieder ein Messer an die Wand, welches stecken bleibt/ Frau sagt: „Kommen Sie rein, kommen sie rein, nur keine Scheu, bei uns ist alles blitzblank...“/ Männer verlieren Geldstücke (extra), um unter Frauenröcke zu schielen/ Frau greift zum Telefon: „Hallo“ – „Oh, besetzt“/ Frauen liegen am Boden und blenden Publikum mit kleinen Spiegeln/ Mann balanciert Zigarette auf einem Finger/ Frauen und Männer besehen sich das Publikum: „Tolle Leute im Publikum“/ alle ziehen sich die Kleider aus und werfen sie im Tanz hoch in die Luft

2ter Teil:
alle ziehen sich die Kleider aus und werfen sie im Tanz hoch in die Luft/ Bonbons werden ins Publikum geworfen/ Gruppentanz ganz vorne am Publikum/ Herren schieben die Damen auf Sesseln und Sofas über die Bühne/ verletzliche Stellen zeigen/ Mechthild Grossmann macht Telefonsex/ Mechthild Grossmann ekelt sich ein paar Mal/ Bauchrollen im Tanz/ Kreide wird auf Körper gemalt um die verletzlichen Stellen aufzuzeigen/ Mann zieht sich vor Spiegel aus und ölt seinen Körper ein/ ein echter Pudel wird über die Bühne geführt/ Gruppentanz bei dem Kopf, Hände, Füße und Schulter geschüttelt werden

 


eingestellt am: 24.05.2006