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038 - FILM - Renn wenn Du kanst

Ein Rollstuhl voller Sarkasmus und Zynismus

Der Film "Renn wenn Du kannst" – ein Rollstuhl auf dem TETRAEDER

RENN, WENN DU KANNST – aber Ben kann nicht. Ben, eigentlich Benjamin (Robert Gwisdek), ein junger Mann, leidet an Tetraplegie. Nach einem Unfall sitzt er querschnittsgelähmt im Rollstuhl. Das ist sieben Jahre her und Ben hat gelernt mit seiner Behinderung zu leben, zu überleben. Auch wenn die kleinsten Aktionen viel Zeit und Geduld erfordern.

Von Dietmar Wolfgang Pritzlaff

Ben schafft vieles – aber nicht alles. Seine Mutter Regina (Leslie Malton), sein Zivi Christian (Jacob Matschenz) und die neue Liebe Annika (Anna Brüggemann) bekommen Bens großen Hass auf das Leben zu spüren. Ben peinigt, straft und behandelt seine Helfer mit Sarkasmus und Zynismus. Ben und sein Zivi Christian sind in die gleiche Frau verliebt. Vom Leiden und Glücklichsein, vom Erstarken des Lebens und der Wandlung ins glücklichere Sein handelt dieser wunderschöne Film.

Es war einmal ein junger Filmemacher namens Dietrich Brüggemann, der seinen Kino-Debütfilm RENN, WENN DU KANNST bei der diesjährigen Berlinale zeigte und das Publikum liebte und bejubelte dieses Erstlingswerk und avancierte schnell zum Publikumsliebling. Auf internationalen Filmfestivals gewann dieser großartige Film schon einige Preise. Zu Recht.

Der Film, in trüben grauen Herbstfarben in Duisburg und Umgebung gedreht, ist in vielen Szenen ein Kammerspiel zwischen den drei Hauptakteuren. Die Kamera ist immer nah am Geschehen und zeigt die Protagonisten in ihren nur allzu menschlichen Situationen. Hier wird kein Thema versteckt oder nur vage gezeigt. In diesem Film wird alles besprochen und dargeboten. Wo andere Filme einen Schnitt setzen geht dieser Film weiter. Auch Sex mit einem Behinderten, mit den Freuden und auch Schwierigkeiten, wird nicht ausgeklammert.

Die ganze Behinderten-Problematik wird leicht und locker erzählt, stürzt aber auch in tieftraurige Abgründe, aus denen ein cooler Spruch oder eine Situationskomik mit befreiendem Lachen wieder herausreißt. Dieser Film führt nie den Behinderten und seine Leiden vor, verschweigt aber auch nichts. In der Rolle des Behinderten brilliert Robert Gwisdek, der Sohn von Michael Gwisdek und Corinna Harfouch, in seiner ersten Hauptrolle. Eine Meisterleistung, eine oscarreife Darstellung. Man kann diesen jungen Schauspieler gar nicht genug für diese Darstellung loben.

Aber auch die beiden anderen Akteure verdienen großes Lob. Anna Brüggemann, die mit ihrem Bruder Dietrich Brüggemann das Drehbuch schrieb und die Rolle der Annika hervorragend zwischen Zweifel, Trübsal und Freude spielt. Und da ist Jacob Matschenz, der als hilfsbereiter Zivi Christian sich nicht von Bens Sarkasmus unterkriegen lässt, ihm auch mal tüchtig die Meinung sagt und kein Blatt vor den Mund nimmt.

Dass dieser Debütfilm so hervorragend funktioniert und einen Behinderten in seiner ganzen Komplexität zeigt, hat seinen Ursprung in der Tatsache, dass der Regisseur Dietrich Brüggemann nicht von irgendwoher seine Eindrücke und Fantasien für das Drehbuch und diesen Film nahm, sondern seine eigenen Erfahrungen mit Behinderten persönlich machte und einfließen ließ. Seine jüngste Schwester sitzt im Rollstuhl und er selbst war Zivildienstleistender in der Behindertenbetreuung. Er kennt also alle Stärken und Schwächen, Leiden und Freuden von Behinderten persönlich.

Gerade weil Rollstuhlfahrer im Film oftmals als Kassengift gelten und man lieber Behinderungen verschweigt als offen zeigt, kommt dieser junge Film daher und "knallt" uns das Thema auf den Tisch und wir müssen sehen und hören und begreifen und das macht so viel Spaß und ist gleichzeitig so still und ruhig und traurig, um gleich wieder brüllend komisch zu sein.

Wo der Film WO IST FRED? mit Til Schweiger mit lustigen Situationen spielt mit einem Mann, der nur vorgibt, ein Behinderter im Rollstuhl zu sein, zeigt der Behinderte Benjamin die Realität mit all seiner Komik im grauen Alltag.

Ein Film voller spitzer Sprüche, kleinen und großen mitreißenden Situationskomiken, voller Witz und Esprit, voller Ironie und Zynismus, voller Romantik und Besinnlichkeit. Kurz ein Film, den man unbedingt sehen sollte. Nicht nur die Dreiecksgeschichte ist bewegend, sondern auch die vielen kleinen Katastrophen, wie zum Beispiel: Eine Schiffsaufhängung mit Ausrutscher, eine Computerzerstörung, ein missglückter Fahrradsalto, eine Scherbe im Bein, ein Cellokonzert, ein Schnitt an einer Hand, ein Rollstuhlkampf im Krankenhaus, einen Büstenweitwurf, eine Tetraederbesteigung mit Stromausfall und vieles mehr.

Wer denkt, dass große Filme nur in der Hauptstadt Berlin spielen können, irrt gewaltig. Eine bessere Kulisse für diesen Film als Duisburg und Umgebung kann es gar nicht geben. Ein Höhepunkt ist die Besteigung der Landmarke Tetraeder auf der Halde Prosper in Bottrop mit Behindertem in einem Rollstuhl. Der Film setzt dem Tetraeder ein filmisches Denkmal und ist gleichzeitig herrlich bizarre Kulisse für die Besteigung der Landmarke. Der Rollstuhl muss die sechzig Meter mit hinauf. Ruhrpottliebhaber aufgepasst – unbedingt ins Kino gehen und sich am weiten Ausblick erfreuen. Es ist ja schließlich RUHR.2010 – es lohnt sich, bloß nicht verpassen.

Der Film RENN, WENN DU KANNST startet am 29. Juli 2010 in den deutschen Kinos.

BESETZUNG:
Benjamin Robert Gwisdek
Annika Anna Brüggemann
Christian Jacob Matschenz
Mareike Franziska Weisz (Annikas Mitbewohnerin)
Benjamins Mutter Leslie Malton
Cellolehrer Michael Sens
u.v.a.

STAB
Regie Dietrich Brüggemann
Drehbuch Dietrich Brüggemann und Anna Brüggemann
Produktion Wüste Film Ost
Koproduktion Wüste Film West
Kamera Alexander Sass
Schnitt Vincent Assmann
Ton Jacob Ilgner
Produzenten Ralph Schwingel, Sabine Holtgreve, Stefan Schubert

Weitere Infos zum Film:
https://de.wikipedia.org/wiki/Renn,_wenn_du_kannst

Infos zum Tetraeder, Bottrop:
TETRAEDER

 


eingestellt am: 09.06.2010