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055 - TANZ - Kontakthof - Pina Bausch



Ausschnitte aus Rainer Werner Fassbinders Film "Theater in Trance"  

von Dietmar Wolfgang Pritzlaff

KONTAKTHOF eines der berühmtesten Stücke von Pina Bausch erlebte im Opernhaus Wuppertal eine Generalüberholung in Form einer Neueinstudierung. Verantwortlich dafür zeichnen die Tänzer und Tänzerinnen, heute auch Choreografen Bénédicte Billiet, Josephine Ann Andicott und Dominique Mercy.

Der KONTAKTHOF ist eine Art menschlicher Viehmarkt auf dem Tänzer wie Tänzerinnen, Frauen und Männer sich dem Publikum anbiedern, vorführen und ihren Körper, ihren Tanz so gut wie möglich verkaufen. Es ist ein Jahrmarkt der Eitelkeiten, den jeder Mensch aus seiner eigenen Berufswelt oder dem Privatleben kennt. Man gaugelt vor, man verspricht mehr als man halten kann. Zerbricht an Auswahlverfahren, an Unstimmigkeiten gegenüber den Mächtigen, den Männerwelten, an denen, die die Auswahl treffen.

Das Stück KONTAKTHOF aus dem Jahre 1978 noch geprägt vom Frauenaufbruch in die Emanzipation erzählt von schwarzgekleideten unmenschlichen Männern und zerbrechlichen, aber auch sich erstarkenden Frauen, die auf dieser Zurschaustellung aufeinanderprallen. Es zeigt kleine Gesten der Unschuld, und großes Gebahren um Schönheit und Begehren. Es sind Frauen wie Männer gleichsam, die hier an ihren eigenen Idealvorstellungen zerbrechen, um sich schlagen, weinen, schreien und doch am Ende nur müde und ausgelaugt den Tanz des Lebens weiter tanzen.

KONTAKTHOF war und ist noch immer hochaktuell und immerwährend spannend. Einige Szenen wirken vielleicht nicht mehr ganz so streng, andere bleiben in ihrer Wucht der Kälte und Härte, die dem Zuschauer entgegenschlägt, beständig. So die „Vergewaltigungsszene“ im zweiten Teil des Tanzabends in der erst ein Mann beginnt an einer Stelle eine Frau zu streicheln, dann werden es immer mehr Männer und noch mehr Hände, die an der Frau herumfingern, rumfummeln und immer aggressiver grabschen. Wirkt die Szene am Anfang noch komisch – wird sie im weiteren Verlauf immer grotesker, beklemmender und grausamer. Und diese Gefühle beim Zusehen sind wie zur Uraufführung 1978 auch heute noch vom Publikum greifbar, erfahrbar.

Das Stück KONTAKTHOF hat viele Gesichter und Pina Bausch hat mit ihrem Stück mehrfach experimentiert. So inszenierte sie im Milleniumsjahr 2000 eine Version KONTAKTHOF – MIT DAMEN UND HERREN AB 65. Im Jahre 2008 kam dann die dritte Version auf die Bühne KONTAKTHOF – MIT TEENAGERN AB 14. Und obwohl sich alle drei Versionen in keiner Geste und Bewegung unterscheiden, sind sie doch innerhalb der Gesten und Bewegungen völlig verschieden.
Ein Tanz oder eine Bewegung eines Seniors zeigt die Erfahrenheit, die Weisheit des Alters. Die gleiche Bewegung eines Teenagers ist ungestüm und wild und nicht so behutsam, aber eher zerbrechlich.

Man sollte alle drei Versionen hintereinander schauen, um diese grandios verschiedenen Gratwanderungen der Gefühle zu entdecken. In Wim Wenders Film PINA-3D zeigt er in schnellen Schnitten Ausschnitte aus den drei Versionen von dem Stück KONTAKTHOF und es wird ansatzweise die Besonderheit der drei Versionen greifbar.

Und letzten Wochenende war es mal so weit: KONTAKTHOF – Ein Stück von Pina Bausch in der Neueinstudierung ohne Frau Bausch – eine neue, eine vierte Version. Das Zusammenspiel zwischen jungen und älteren Tänzer und Tänzerinnen, der Gegensatz zwischen Wildheit und Reife, Erkundung und Erfahrung machen den Reiz dieser Neueinstudierung aus. Die Mischung macht’s.

Leider spielt Josephine Ann Endicott nicht in dieser Inszenierung mit. Eine Tänzerin der ersten Stunde, die in Kontakthof eine Szene legendär machte: Die Liebling-Szene. Sie sagt dreißig Mal und mehr das Wort LIEBLING in immer in neuen Varianten. Eine wahre Meisterleistung, aber Frau Endicott sagt in ihrem Buch, das sie nicht mehr auf die Bühne will, dafür aber die Probenleitung für KONTAKTHOF in allen drei Varianten mit übernommen hat. Julie Shanahan hat die Rolle an diesem Tanzabend inne. Auch ihr gehört eine großes Lob für ihre Darstellung der „Dame in Rosa“.

Die gelungene Neueinstudierung von KONTAKTHOF lässt auf viele weitere Inszenierungen des vielseitigen Werks von Pina Bausch hoffen.
Das Publikum in Wuppertal feierte das Ensemble und das Stück mit tosendem Applaus, Bravorufen und Standing-Ovation.

Das einzigartige Werk der Pina Bausch bleibt der Nachwelt erhalten, wird gepflegt und gehegt und kann immer wieder neu entdeckt und interpretiert werden. Auf nach Wuppertal!

Darsteller/Tänzer und Tänzerinnen:
Ruth Amarante, Pablo Aran Gimeno, Andrey Berezin, Damiano Ottavio Bigi, Alĕs Čuček, Clémentine Deluy, Thusnelda Mercy, Ditta Miranda Jasifi, Aida Vainieri, Barbara Kaufmann, Nayoung Kim, Daphnis Kokkinos, Eddie Martinez, Cristiana Morganti, Nazareth Panadero, Helena Pikon, Jorge Puerta Armenta, Franko Schmidt, Azusa Seyama, Julie Shanahan, Julie Anne Stanzak, Michael Strecker, Fernando Suels Mendoza, Anna Wehsarg, Sergey Zhukow

 

Infos zu den Pina Bausch-Stücken auf:
https://www.pina-bausch.de/de/

 

Dekoration:
1. und 2. Teil:
hohe Wände, grau und weiß, mit grauen Türen / Stühle und Mikrofone stehen vor den Wänden / 1 Klavier, hinten rechts vor grauer Tür / ein riesiger grauer Vorhang verhüllt eine Leinwand, es wirkt wie ein Guckkasten-Theater oder Kino, auf der Leinwand wird im 2ten Teil ein Enten-Tier-Film gezeigt / ein großes Fenster durch das die „Sonne“ in den Raum, in den „Kontakthof“ scheint

Kostüme:
Die Herren tragen schwarze oder dunkelgraue Anzüge, schwarze Schlipse / die Damen sind in pastellfarbenen Cocktailkleidern gehüllt, manchmal wechseln die Kleider in schwarz

Spielszenen:

1.Teil:
Alle Tänzer und Tänzerinnen kommen auf die Bühne und setzen sich auf Stühle / eine Frau kommt an den Bühnenrand und zeigt sich vor: 1) Vorderseite – 2) Rückseite – 3) im Profil – Bauch raus – Bauch rein – gerade stehen – 4) Hände – oben und unten – 5) Haare nach hinten – 6) Zähne zeigen – 7) Fuß / Schuh zeigen und Abgang wieder nach hinten / das machen 3 Frauen, dann 1 Mann, dann 2 Männer, dann alle Männer, dann alle Frauen und alle Männer / eine Frau sagt: „Ich komme aus Paris“, eine andere sagt: „Ich komme aus Hamburg. Ich bin verheiratet.“ / Licht bleibt im Zuschauerraum an, damit das Publikum gesehen wird / Gruppentanz / Frau lacht hysterisch bis zum umfallen / alle singen „LA-LA-LA...“ und gehen nach hinten / Mann wirft eine Maus nach einer Frau (Nazareth Panadero), die schreit und läuft davon, das wird mehrfach wiederholt im Laufe des Stücks / Frauen stakeln auf hohen Schuhen diagonal über die Bühne, 1 Mann geht hinterher / eine Frau schlägt Tür und jault oder piepst dazu / eine Frau geht auf Zehenspitzen lange Zeit / 2 Frauen streichen ständig ihr Kleid glatt oder ziehen und zupfen daran herum / Nazareth sagt zu einem Mann: „Er ist schön und stark“ / eine Frau erzählt eine Geschichte vom Fall vom Klavier / Frau sagt: „Ich tue als ob ich allein sein will, aber ich hoffe es kommt jemand vorbei“ / alle machen Schlurfschritt-Tanz nach vorne, laufen wieder zurück und beginnen von vorne (wie in „Two Cigarrettes in the dark“) / Frau lacht ins Publikum / Julie Shanahan sagt „AUA“ ins Mikro, alle anderen klatschen / Mann und Frau tuen sich weh / Mann zieht Frau Stuhl weg, als sie sich setzen will / Frau stellt Stöckel-Absatz auf Fuß vom Mann / Gruppenszene, Bedrängungsszene: Männer auf Stühlen rücken den Frauen näher, sie fummeln in der Luft, Frauen gegenüber wehren sich / Frau in rosa macht wilde Bewegungen, wie Hampelmann, später machen Alle diese verrückten Bewegungen / Männer üben alleine für sich Tanzhaltungen, Frauen stellen sich dazu (Wiegeschritt) / Julie Shanahan balanciert am Bühnenrand mit grünem Apfel in der Hand und in grünem Kleid / Mann vermisst den Abstand von Mann zu Frau bei einem Tanzpaar / Frau fragt mehrmals im Publikum nach Geld, dann setzt sie sich auf ein elektrisches Schaukelpferd, aber es läuft nicht, später wird ein Mann entdecken, dass der Stecker raus ist, danach wird die Frau und auch andere Frauen immer mal wieder auf das elektrische Schaukelpferd steigen / Frauen befühlen sich, beißen sich selbst / Zärtlichkeiten werden immer brutaler / Julie Shanahan und Nazareth in ROSA und mit Schleife im Haar, ganz neckisch, ganz verträumt, ganz die Unschuld tänzeln über die Bühne / Mann auf Stuhl, Frau liegt am Boden wie tot, er stellt sich auf, sie fällt um / Mann und Frau an beiden Seiten der Bühne auf Stühle, sie schmachten sich an, sie schauen sich gegenseitig zu, wie sie sich ausziehen, bis sie ganz nackt sind, dann ziehen sie sich einfach wieder an / Gruppentanz im Kreis mit Helena Pikon, im Gleichschritt zur Musik, kleine Gesten dazu, wie Kleid glatt streichen, einen Fussel zwischen den Fingern abstreifen und in die Wangen blasen (dicke Backen machen) / eine Frau sagt: „in schwarzen Kleidern ist es schöner“, alle Damen ziehen sich um und tanzen in schwarz im Kreis / eine Frau sagt: „in bunt war doch schöner“, alle Frauen gehen hinaus und ziehen sich wieder um, kommen wieder und tanzen, schreiten wieder im Kreis / ein älterer Tänzer macht erst die Brille von der Nase ins Etui und zieht dann sein Jacket aus / Männer und Frauen befummeln sich gegenseitig / eine Frau ruft nach einem Eddie, immer wieder, der aber nicht kommt / Helena singt alleine: „Weißt du wieviel Sterne stehen...“ / Mann haut Tür zu und tut als ob er die Hand dazwischen hat, alle klatschen / Männer tun sich selber weh / Frau schlägt Kopf hin und her durch die Luft / Mann schlägt den Klavierdeckel auf seine Hand / Julie Shanahan springt an die Wände / sich begegnen, sich nähern und wieder abstoßen, Zärtlichkeiten nur noch angedeutet, sich nach Zärtlichkeiten aber verzehren / alle in erster Reihe am Bühnenrand auf Stühlen erzählen alle zusammen ins Publikum ihre Geschichten, ein Mann hält Mikro jedem einzelnen vor und man lauscht für einige Sekunden der Geschichte (auch in fremden Sprachen) / Mann und Frau bieten sich an und gehen doch wieder weg / es wird immer hektischer und alle suchen ///

PAUSE

2.Teil:
Alle an hinterer Bühnenwand auf Stühlen, wiegen sich hin und her, ein fröhliches Schunkeln wir immer schneller und hektischer und wirkt zum Schluss bedrohlich / dazu ein völlig selbstverloren aussehender Tanz von Julie / Julie Shanahan sagt 30x: „LIEBLING“ in immer verschiedenen Varianten (früher Rolle von Josephine Ann Endicott) / Julie in Rosa lutscht Daumen und ist niedlich und verschüchtert / Gruppentanz: Paare tanzen echten Walzer (Musik: „Der letzte Walzer“) / alle sitzen auf Stühlen und singen: „My Bonnie is over the ocean...“) / Julie weint, alle gehen und verlassen Julie / Nazareth tröstet Julie / Alle sitzen auf Stühlen mit Rücken zum Publikum, ein „Vorführer“ zeigt einen Farbfilm auf der Leinwand, einen Tierfilm über Enten und Entenküken, über Aufzucht und Pflege (Tauchenten, Tafelenten, Stockenten, Reierente, Graugänse etc.) / der Film ist zu Ende alle bedauern und sagen: „Oh“/ Frau will wieder Geld für Schaukelpferd und reitet es immer mal wieder / Gruppentanz diagonal / Eine Frau korrigiert die einzelnen Tänzer und regt sich über falschen Tanz auf / Gruppentanz diagonal, mit ausladenen Schritten / Bedrängungsszene mit Seitenwechsel: Frauen auf Stühle wehren sich gegen Männer die stehend Fummelbewegungen in die Luft machen / Julie schreitet alleine auf Zehenspitzen / ein Mann folgt ihr mit Stuhl und Notenständer, er will sich halten, aber die Frau geht immer weiter, der Mann immer hinterher / Nazareth geht in schwarzem Kleid über die Bühne / Julie auf Zehenspitzen / Frau piepst ganz hoch und laut, als ob sie Lockrufe ausstoßen würde, schaut sie nach oben und wartet zwischen den Lauten / Alle stellen sich in schwarzen Anzügen und Kleidern, ganz langsam verneigen alle den Kopf dann beugen sie sich tief hinunter und ganz langsam wieder zurück, gehen ein paar Schritte und beugen sich wieder, von Verneigung bis gebeugt sein, erniedrigt sein, sind alle Gefühle darin / Mann macht Fotos von Tanzpaaren und verschenkt, verteilt die Fotos später im Publikum / alle sitzen auf dem Boden und beugen sich langsam, stehen auf, gehen woanders hin und beugen sich wieder / Mann wirft wieder Maus nach Frau, Nazareth schreit nicht mehr, geht nur noch weg und ist geschockt / VERGEWALTIGUNGSSZENE, alle Männer fummeln, streicheln, kitzeln, halten, klopfen an einer Frau (Nazareth) herum, die sich nicht wehrt und nur erträgt, erst ist es lustig, später ist es nur noch grausam und schwer zu ertragen / Nazareth wird für eine andere Frau die auf die Bühne kommt stehen gelassen, sie geht langsam davon / Gruppentanz, Schreittanz: alle machen kleine Geste und schreiten, schreiten noch als die Musik aufhört, man hört nur noch das Klacken der Absätze auf der Bühne, bis das Licht ganz aus ist ///

Applaus


eingestellt am: 27.03.2011