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076 - KUNST - documenta 13 - 2012

 



Foto © Dietmar Wolfgang Pritzlaff • Schlangestehen vor dem Fridericianum Kassel

 

Endlich ist es wieder soweit: Die dOCUMENTA in Kassel öffnete seine Pforten für Kunstinteressierte aus aller Welt und präsentiert Künstler aus aller Welt mit Kunst aus aller Welt, denn nur alle fünf Jahre wird Kassel zum Mekka der Kunstszene.

Von Dietmar Wolfgang Pritzlaff

Die dOCUMENTA 12 im Jahre 2007 war wenig Bauchgefühl und eher ein kopflastiges Ereignis, dem der Normalsterbliche auch mit viel Lesen kaum beikam.

Das scheint auf der diesjährigen dOCUMENTA 13 anders zu sein. Es gibt Kunst hinter Stoffbahnen, die der einzelne Besucher erst ein Mal lüpfen muss, um die Kunst dahinter sichtbar zu machen.



Foto © Dietmar Wolfgang Pritzlaff • Versteckte Kunst: "Tuch hoch... ah... Kunst!"

 

Es gibt Kunstpavillons die man begehen kann und die immer wieder ein neues Raumgefühl geben. Aber auch bei dieser dOCUMENTA 13 könnte man sich erst Mal durch hunderte Seiten Erklärungen wälzen bevor man nur annähernd versteht, was hinter den zur Schau gestellten Objekten steckt.

Klotzen statt Kleckern ist das Zauberwort, das über dieser dOCUMENTA 13 schwebt. Man braucht schon ein erstaunliches Maß an Interessiertheit um die gesamte Kunstschau zu erobern.
Ganz Kassel ist zum Kunstraum geworden. Noch nie wurden so viele Orte auf einmal mit Kunstwerken ausgestattet, oder sind zu Zuschauerräumen oder Zuhörerräumen erkoren worden.
Es gibt Diskussionsrunden, Filmvorträge in Kinosälen und es gibt die vielen Kunstorte: Das Fridericianum, die dOCUMENTA-Halle, der Aschrottbrunnen, die Orangerie mit Kunstpavillons, einen alten Bunker, Hallen im Hauptbahnhof, eine Galerie, Schaufenster und und und...
Man braucht schon eine Menge Zeit, Geduld und gutes Schuhwerk, um an einem oder besser an zwei oder sogar drei Tagen wirklich alles erlebt zu haben.
Dazu kommen noch tägliche Diskussionsrunden, Führungen und Filmvorträge mit wechselnden und länderspezifischen Themen.
Begleitend erschien immer ein Katalog zur Ausstellung. Dieses Jahr sind es gleich 3 Kataloge die der beherzte Kunstinteressierte studieren und mitschleppen darf.



Foto © Dietmar Wolfgang Pritzlaff • Schlangestehen vor einzelnen überfüllten Räumen

Riesig das Ganze aber doch noch erstaunlich ansprechend, wahrscheinlich weil die diesjährige künstlerische Leitung erst zum zweiten Male einer Frau übertragen worden ist. 1997 war es Catherine David und dieses Jahr wurde die US-amerikanische Kuratorin CAROLYN CHRISTOV-BAKARGIEV ausgewählt. Sie war Chefkuratorin des Castello di Rivoli – Museo di Arte Contemporanea in Turin und war auch Leiterin der Biennale of Sydney.

Das einzig beklagenswerte ist die Tatsache, dass die dOCUMENTA 13 kaum Werbung für sich selbst in Kassel macht. Da läuft man schon mal an einem gelben Aufsteller vorbei und merkt nicht, dass das Werbung für eine neue Präsentationshalle ist.

Das war bei der letzten dOCUMENTA 12 ganz anders. Da wehten schon von weitem sichtbar große Fahnen an den ausgewählten Orten, die Hinweis gaben, das dort die Kunst der dOCUMENTA anzutreffen war.

Was den Besuchern sichtlich am meisten Spaß macht, ist die „Kunst“-Orangerie. War die Orangerie schon immer ein weiterer Ort der Kunst, ist sie in diesem Jahr nicht nur von ein – oder zwei Kunstwerken belegt, nein, dieses Jahr sind es rund 50 Stationen, kleine Häuser, die in dem ganzen Park der Orangerie errichtet worden sind. Der Besucher läuft kreuz und quer durch den Park auf der Suche nach den Kunststationen.. Das gleicht der Kunstbiennale von Venedig, bei der man die Pavillons der Länder besuchen kann.

Und wir bleiben erst Mal bei der Kunst in der Orangerie. Hier gibt es Kunst mit Bauchgefühl, so zum Beispiel das Werk von Massimo Bartolini: WAVE. Eine Betonwanne eingelassen im Boden. Alle 40 Minuten wird das Wasser bewegt und schwappt zu den Seiten wie eine Welle im Wellenbad.



Foto © Dietmar Wolfgang Pritzlaff • "Die Welle" im Karlsaue-Park an der Fulda

 

Ein Kunstbaum mit einem großen Stein im Geäst ist ein weiteres Werk, das den Besuchern offensichtlich gut gefällt. Kunst zum Anfassen liegt im Trend. Der riesige Baum ist ein Kunstwerk von Giuseppe Penone und heißt „Idee di Pietra“ („Ansichten eines Steins“) und steht auf der Karlsaue. Es ist das erste Kunstwerk, das schon lange vor der eigentlichen Öffnung der dOCUMENTA, am 22. Juni 2010 eingeweiht wurde. Der Baum ist eine etwas 9 Meter hohe Bronzeskulptur ohne Blätter und die Äste auf Stumpen abgeschnitten. Im Geäst trägt der Baum einen großen Stein. Eine Stechpalme pflanzte Penone am Fuße der Skulptur. Eine Anspielung auf Joseph Beuys Kunstaktion 7000 EICHEN aus dem Jahr 1982 auf der dOCUMENTA 7.



Foto © Dietmar Wolfgang Pritzlaff • Bronze-Baum-Skulptur mit Stein im Geäst

 

Direkt vor der Orangerie steht der riesige kreisrunde Gartenhügel DOING NOTHING von Song Dong. Wild wuchernd ist er ein Paradies für Insekten.



Foto © Dietmar Wolfgang Pritzlaff • Gartenhügel im Karlsaue-Park vor der Orangerie

 

Und wo sonst keine Brücke zur Verfügung steht, kann man jetzt über eine Ponton-Brücke vom THW mit Anpflanzung an das andere Ufer klettern. Das ist die MANGOLD-FÄHRE (Untertitel = DER RUSSE KOMMT NICHT MEHR ÜBER DIE FULDA) ein Kunstwerk von Christian Philipp Müller.



Foto © Dietmar Wolfgang Pritzlaff • Ponton-Brücke: Die Mangold-Fähre

 

Außerdem gibt es noch im Park eine begehbare Treppenskulptur SCAFFOLD von Sam Durant, einen Hunde-Auslauf- und Übungsplatz DOG RUN von Brian Jungen und einen Geräuschewald FOREST (FOR A THOUSAND YEARS) von Jane Cardiff & George Mures Miller. Der Besucher sitzt hierbei auf Baumpfählen und ob man nicht eigentlich genug Geräusche hören könnte wie Vogelgezwitscher, beschallen Lautsprecherboxen den Wald mit Schlachtengeräuschen, Flugzeuglärm und Pferdegalopp. Für dieses Kunstwerk muss man zwar weit in den Park laufen, aber Hin- und Herlaufen muss man auf dieser dOCUMENTA ja sowieso.



Foto © Dietmar Wolfgang Pritzlaff • "Im Wald hören"

 

Eine große Figur schimmert grell weiß durch das Blattgrün im Park. Die Skulptur THE IMPORTANCE OF TELEPATHY von Apichatpong Weerasethakul.



Foto © Dietmar Wolfgang Pritzlaff • leuchtend weiße Figur im Park

 

Die TIME BANK von Julieta Aranda & Anton Vidokle fragt den Besucher „Was ist Zeit? Was ist der Sinn der Zeit? Welcher Wert hat Zeit?“

Fiona Halls FALL PREY – ein Haus welches bei der Erstbegehung einen unheimlichen Eindruck macht, denn ihre ausgestellten toten Tiere sind aus Stoffen die uns umgeben hergestellt und sehen doch so tierisch gut aus. Dazu gibt es für alle Spinnenekler zwei Videofilme von Spinnen in ihren Behausungen.

Da man in einen Bericht kaum die gesamte Fülle der unterschiedlichen Kunstwerke darstellen kann, sollen hier nur noch einige herausragende Werke beschrieben werden:

Es gibt Elektronikwerke QUANTEN HEUTE von Anton Zellinger, die wohl eher dem Elektroniker vorbehalten sind. Die Besucher gehen meist achtlos daran vorbei. Doch gerade diese verspielten Werke sollte man genauer in Augenschein nehmen.

Unter Glas sieht man auf einer weißen Fläche 2 tote Fliegen. Das Kunstwerk SLEEPING SICKNESS von Pratchaya Phinthong lockt Besucher an. Sie staunen, schauen nach links und nach rechts mit der Frage im Gesicht: „Das kann doch nicht sein oder?“, um dann zu Schmunzeln, aber es traut sich kaum jemand zu Schmunzeln, denn das ist doch Kunst oder nicht? Warum sollte man nicht lachen? Man traut sich ja auch diese Fliegen als große Kunst hier auszustellen.



Foto © Dietmar Wolfgang Pritzlaff • "Zwei tote Fliegen unter Glas" - auch das ist Kunst

 

Die Installationskunstwerke von Nalini Malani IN SEARCH OF VANISHED BLOOD sind 4 drehende transparente Plastikzylinder die Schattenspiele an die Wände über Dias werfen. Das Schattenspiel wird mit Musik und Sprache zu einem Gesamtkunstwerk.

Thomas Bayrles Installation mit großformatiger Pappkartoncollage, Riesenflugzeugbild, welches wie gerastert aussieht und dazugehörende echte aufgeschnittene Motoren, welche sich von Zeit zu Zeit in Gang setzen, geben manchem Besucher Rätsel auf, aber faszinierend ist es allemal. Man kann den auf- und abfahrenden Kolben bei der Arbeit zusehen.


Foto © Dietmar Wolfgang Pritzlaff • Pappkartons, Flugzeug und laufende Motoren

 

Draht-Pappe-Gitter-Bilder von Sopheap Pich sind von unglaublicher Präzision und Feinheit und sehen fast maschinell gefertigt aus. Eine herausragende Arbeit.



Foto © Dietmar Wolfgang Pritzlaff • Gitterbilder aus Drahtgeflecht und Pappe

 

Ein Höhepunkt sind die Bilder von Llyn Foulkes. Es sind Kunstwerke mit einem echten Wow-Erlebnis. Sie hängen in abgedunkelten Räumen und mit dem spärlichen Licht wirken sie wie dreidimensionale Bilder. 3D ist in der bildenden Kunst angekommen.



Foto © Dietmar Wolfgang Pritzlaff • 3D in der Kunst: Reliefkunst

Und auch eine Maschine die nur greifbar und live bei der Eröffnung zu sehen und zu hören war. Llyn Foulkes spielte THE MACHINE und sang höchstpersönlich. Davon wurde ein Film erstellt und dieser wird nun anstatt der Original-Sound-Maschine gezeigt. Lustig ist gar kein Ausdruck. Das ist überbordende Künstlerfreude.



Foto © Dietmar Wolfgang Pritzlaff • der Soundmacher: Llyn Foulkes

 

Afrikas, von den Unruhen, von Leid und Not hässlich entstellte Gesichter kann man im Werk THE REPAIR FROM OCCIDENT TO EXTRA-OCCIDENTAL CULTURES von Kader Attia sehen.

Es gab schon Ausstellungen bei denen man kaum noch andere Themen als Elend, Not und Leid des menschlichen, tierischen und pflanzlichen Lebens zu sehen bekam. Diese Themen sind bei der diesjährigen dOCUMENTA 13 eher selten anzutreffen.

Haben wir uns an das Elend der Welt gewöhnt? Sind wir mit dem Überangebot  schrecklicher Bilder und Nachrichten in unseren bunten TV-Programmen unserer Unterhaltungswelt schon abgestumpft, überfordert und gelangweilt? Oder ist diese dOCUMENTA 13, die ja Weltkunst zeigen will nur der Aufbruch zu einer weiteren Suche nach den neuesten Formen der Kunst?

Ist gibt auch kritisches – doch ja. Man findet sie am Rande. Zum Beispiel eine Videoinstallation, die in Zeitraffer dem Zuschauer den Bau eines Atomkraftwerkes zeigt. Ein Schnelldurchlauf. Schnell gesehen – „Wow... ich bin dagegen gesagt“ – und schnell – schnell – schnell – ist ist der Besucher schon wieder auf dem Weg zu neuen Objekten.



Foto © Dietmar Wolfgang Pritzlaff • und wieder Schlangestehen

 

Hoffentlich bleibt etwas in dem Betrachter zurück. Denn das hat diese Weltkunstschau in Kassel und vor allem die Kunst und seine Künstler und Künstlerinnen verdient.

Die Kunstschau der 100 Tage, denn nur so lange läuft sie – die dOCUMENTA 13 – dauert nur noch bis zum 16.09.2012. Also schnell die bequemen Wanderschuhe angezogen und Kunst geguckt. Viel Spass!

Für alle die sich nur mal informieren wollen oder keine Zeit haben, es gibt noch das Internet:

https://www.documenta.de

und auch die Kataloge zur dOCUMENTA sind bestellbar.

 

 


eingestellt am: 11.09.2012